Von Pfützen und Ozeanen:

Inga Lohmann und Irmgard Niestedt-Seeger über den Neuanfang nach der Trauer

Rotenburger Kreiszeitung, 06. April 2023. Von: Nina Baucke.

Inga Lohmann (l.) und Irmgard Niestedt-Seeger begleiten Menschen auf ihrem Weg durch das Trauerlabyrinth. © Baucke

Es geht immer vorwärts und nie zurück – das gilt auch für die Zeit nach einem Trauerfall. Aber mit welchen Herausforderungen dieser Neuanfang verbunden ist, darüber haben wir uns mit Inga Lohmann und Irmgard Niestedt-Seeger, Trauerbegleiterinnen beim Rotenburger Hospizverein, unterhalten.

Rotenburg – „Wenn einer gestorben ist, ist das wie mit einem Schokoladenkäfer: Nur die Hülle bleibt zurück, das Gute ist in einem drin“: Dieser Ausspruch eines sechsjährigen Jungen steht auf einer Karte, die beim Hospizverein Rotenburg ausliegt. Bis zu dieser Erkenntnis ist es für Trauernde aber oft ein langer Weg, der jedoch am Ende zu einem Neuanfang führt. Welche Herausforderungen dieser Weg allerdings birgt, darüber haben wir uns mit den Trauerbegleitern Inga Lohmann und Irmgard Niestedt-Seeger vom Hospizverein unterhalten.

Gehören Trauer und Neuanfang zusammen?

Inga Lohmann: Definitiv – ob man es will oder nicht. Neuanfang klingt ja erstmal positiv, aber wenn jemand stirbt, tut das weh – und das will keiner. Trotzdem ist es ein Neuanfang, zu dem die Menschen gezwungen werden. Wir haben in unserer Trauerarbeit Modelle, wie zum Beispiel ein Trauerlabyrinth. Am Ausgangspunkt ist jemand gestorben, es bricht das Herz. Dann geht jeder Mensch in diesem Labyrinth seinen individuellen Weg mit der Trauer. Aber viele wollen die Trauer weg haben, doch das geht nicht. Stattdessen sollte es so sein, dass der Raum um die Trauer herum größer wird, sich mit anderen Dingen füllt. Aber das braucht Zeit. Auf der anderen Seite, oft nach dem Tod eines Kindes, wollen die Betroffenen gar nicht, dass die Trauer ganz weggeht, weil sie ein Bestandteil des Lebens ist. Es geht darum, Trauer zu integrieren.

Irmgard Niestedt-Seeger: Daher ist das an der Stelle eine Frage der Interpretation, ob das wirklich ein Neuanfang an dieser Stelle ist. Manche wollen reden, oder auch nicht. Sie wissen nicht, wo die Reise hingehen soll.

Wie wichtig ist es, nach einem Trauerfall einen Neustart zu machen?

Niestedt-Seeger: Alles fließt, da gibt es etliche Metaphern für.

Lohmann: Ich denke schon. Wir sind ja gerade in der Karwoche, und „kar“ heißt ja „klagen“. Ich habe mal ein Zitat gelesen, dass Klagen und Jammern zum Leben gehören, man darf in dieser Phase nur nicht stecken bleiben. Selbst Jesus hat am Ende seines Lebens noch geklagt. Er ist dann wieder auferstanden, heißt: Es geht weiter. Wenn ich jetzt trauern würde, würde mir das helfen, zu wissen, dass ich jetzt einfach mal jammern darf.

Niestedt-Seeger: Es ist in unserer Kultur so, dass wir immer diszipliniert sein wollen. In anderen Kulturen gibt es Klageweiber: Man hat sich Frauen hergeholt, die laut jammern und klagen. Man feiert Feste – alles Dinge, die wir uns gar nicht trauen. Zum Beispiel einfach mal dem Ganzen Raum zu geben und den Tod zu feiern wie in New Orleans. Wir sagen immer, dass wir nicht traurig sein, dafür sollten wir uns mit Gefühlen mal richtig vollstopfen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, in der das oft nicht zugelassen wird.

Lohmann: Wir haben in unserer Kindergruppe letztes Jahr zum ersten Mal den „Día de Muertos“ gefeiert. Das kam richtig gut an.

Wie haben die Kinder reagiert?

Lohmann: Super! Jeder konnte mitbringen, was er mochte und an den Verstorbenen erinnert. Aber es haben sich viele tolle Gespräche entwickelt. Auch die Angehörigen, die dabei waren, hatten viel zu erzählen.

Niestedt-Seeger: Alle waren stolz, etwas einzubringen. Es hat gelebt.

Lohmann: Auch die Erinnerungen waren lebendig. Da haben wir den Tod gefeiert.

Welche Herausforderungen bringt ein Neuanfang mit sich?

Lohmann: Kinder zum Beispiel brauchen anfangs gewohnte Abläufe, die ihnen Halt geben. Und das suchen sie sich ganz automatisch. Erwachsene sind oft in einem Meer von Trauer, Kinder nicht. Kinder hüpfen da hinein wie in Pfützen. In denen sind sie genauso tief drin, wie Erwachsene in ihrem Ozean, aber sie hüpfen da auch ganz schnell wieder raus und gehen spielen oder machen was ganz anderes.

Niestedt-Seeger: Aber auch Erwachsene brauchen eine Struktur, da geht es durch verschiedene Phasen. Aber das ist meiner Meinung nach schwierig, man kann Trauer nicht abschnittsweise abarbeiten.

Lohmann: Auch das Labyrinth ist nicht in Stein gemeißelt, die Traueraufgaben können übereinanderlappen. Ich kann dankbar und traurig zugleich sein. Wir können sagen: Wir feiern das Leben, wir feiern den Tod. Ich beobachte oft, dass Menschen denken, sie könnten in Trauer auch nur tieftraurig sein. Aber das gleichzeitig diese Dankbarkeit und Lebensfreude da sein kann – das macht Ostern auch so schön klar: Jetzt in der Karwoche geht es um Trauer und Leid und sofort danach feiern wir mit bunten Eiern das Leben. Von heute auf morgen. Und diesen Prozess, von der Klage in die Freude zu kommen, den begleiten wir. Manche Menschen trauern Jahre, bei den anderen ist anders. Jeder geht seinen eigenen Weg im Lebens- und Trauerlabyrinth.

Niestedt-Seeger: In den Trauercafés und -treffs höre ich immer wieder, wie Trauernde sagen: „Wenn ich nicht so und so trauere, denken andere, ich hätte meinen Mann nicht geliebt.“ Aber was macht Trauer aus? Muss ich das nach außen zeigen? Man darf heulen und aber auch am nächsten Tag wieder lachen.

Aber wie wichtig ist es dann, sich von diesen Erwartungen loszumachen?

Lohmann: Sehr wichtig. Es geht nur um mich. Um meinen Weg mit der Trauer. Es ist schön, zu sehen, wie alles Stück für Stück aufgebrochen wird und sich immer mehr über diese Erwartungen stellen.

Niestedt-Seeger: Man muss sich mit der Trauer auseinandersetzen. Das öffnet den Horizont. Und dazu sollte man sich die Frage stellen: Haben wir Angst vor Sterben oder vor dem Tod – oder vor der Trauer?

Lohmann: Und oft ist die Angst größer, als Trauer am Ende wirklich selber zu erfahren.

Welche Unterschiede gibt es noch bei Kindern und Erwachsenen, wenn das Leben auf einmal komplett anders ist und doch weitergehen muss?

Lohmann: Es ist wichtig, Kinder miteinzubeziehen und sie dabei auch gut miteinzubeziehen. In unserer Gesellschaft ist es oft so, dass Kinder ausgeschlossen werden – zu ihrem Schutz. Aber da müssen wir uns ehrlich fragen, wer hier wen vor was schützt. Wir haben in dem Labyrinth eine Aufgabe, die „begreifen“ heißt. Kinder lernen alles durch das Begreifen. Und wenn jemand sagt „Der und der ist gestorben“, fragt das Kind erst einmal, was gestorben bedeutet. Das ist erst einmal etwas Abstraktes. Aber wenn ich den Toten da liegen habe, hilft das zum Begreifen, dass die Kinder sehen: Oh, der ist wirklich tot. Und tot sein heißt nicht „eingeschlafen“. Das ist ganz wichtig.

Warum wollen wir Kinder davor schützen?

Lohmann: Weil wir denken, dass es zu traurig für sie ist.

Niestedt-Seeger: Das liegt an den Erwachsenen, nicht an den Kindern. Wir wissen vom ersten Tag an alle, dass wir sterben werden, und die Erwachsenen sollten das irgendwann mal begriffen haben. Menschen, die gläubig sind, können da vielleicht besser mit umgehen, die haben jemanden, auf den sie vertrauen.

Gibt es etwas, das einen Neuanfang wieder ausbremsen kann?

Lohmann: Das kann zum Beispiel ein Lied sein, welches mich wieder in eine tiefe Trauerphase fallen lässt. Wobei wir jetzt ja wissen, dass es kein Rückschritt ist, sondern nur eine neue Schicht im Trauerprozess.

Welche Rolle spielt bei dem Ausbremsen Reue? Dass man den letzten Anruf nicht angenommen hat, der letzte Kontakt im Streit war?

Lohmann: Erst einmal muss man es für sich akzeptieren, dass man es nicht mehr ändern kann. Vielleicht geht man zum Friedhof oder an einen besonderen Ort für diese Beziehung und spricht es laut aus. Aber natürlich ist es nicht so, als hätte man es in Wirklichkeit noch einmal geklärt. Aber ob einen das am Ende frei macht, liegt am Individuum.

Gibt es auch mal Rückschläge? Und wenn ja: Sind diese normal?

Niestedt-Seeger: Was ist normal?

Lohmann: Alles ist normal. Es gibt kein unnormal, es ist alles erlaubt. Und Rückschläge sind keine Rückschläge, es geht einfach nochmal in eine andere Zwiebelschicht – und damit ein Fortschritt.

Niestedt-Seeger: Wenn ich wieder einen Rückschritt gemacht habe und dann wieder nach vorne gehe, nehme ich etwas Altes in diesen Neuanfang mit. Tod ist Leben, Leben ist Tod.

Wie wichtig ist es, sich Unterstützung zu suchen?

Lohmann: Es kann helfen. Wir haben dadurch, dass wir uns damit beschäftigt haben, Dinge an der Hand, die andere nicht haben. Vermutlich braucht nicht jeder eine Trauerbegleitung. Aber oft kann der Austausch helfen. Kinder zum Beispiel, wo ein Elternteil stirbt, denken, sie sind ganz alleine damit. Hier in der Gruppe sehen sie, dass das nicht stimmt. Es ist Netzwerken – und in ein Netz kann ich mich fallen lassen. Grundsätzlich wollen wir den Tod wieder ins Leben holen, dass wir ihn nicht wegschließen, sondern lernen, damit zu leben. Das macht es nicht weniger traurig. Aber der Umgang kann sich erleichtern, und darüber zu sprechen und das zu integrieren kann unterstützend sein.

Ist das auch eine Form von Neuanfang?

Lohmann: Es ist ein Prozess. Ein Junge in unserer Kindertrauergruppe hat mal gesagt, wir sollten uns umbenennen in Lebensfreudegruppe. Das zeigt, wie nahe Freude und Trauer beieinander sind, wie sie zusammenpassen. Und da sind wir auch wieder bei dem Ausgangspunkt: Wir feiern das Leben, wir feiern den Tod.

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